Liebe Mitmenschen in der Andreasgemeinde,
wie weit können Sie sich an Ihre Kindheit zurückerinnern? Ich bin in einem Dorf am Obermain in Oberfranken aufgewachsen, ziemlich genau in der Mitte zwischen der katholischen Bischofsstadt Bamberg und der protestantischen Kreisstadt Coburg. Der Teil des Dorfes, in dem ich groß geworden bin – heute würde man wahrscheinlich sagen „meine Community“ – liegt hinter den Bahngleisen der heutigen ICE-Strecke Nürnberg-Erfurt. Nicht nur die Bahngleise trennten damals die Ortsteile. Dort, wo ich herkomme, waren damals 80 % der Bewohner Flüchtlinge aus dem Osten, die nach dem Weltkrieg angesiedelt worden waren. Und dann waren diese Leute auch noch evangelisch. Während meine – wesentlich älteren - Cousins und Cousinen noch richtig harte Zeiten durchmachen mussten, Beleidigungen und Pöbeleien gingen ständig hin und her, und es auch schon mal zu Prügeleien mit der einheimischen Dorfjugend kam, hatte sich der ganze Ärger in meiner Kindheit und Jugend ziemlich gelegt. Aber hin und wieder kam es vor, wenn ich mich bei einem Schulfreund zum Spielen verabredet hatte, dass mich ein Großelternteil – die Großeltern waren meistens für die Beaufsichtigung der Kinder „abgestellt“ – fragte: „Wo kommst du denn her?“. Und wenn ich dann unseren Straßennamen sagte, kam immer mal wieder die Antwort: „Ach, bei den Flüchtlingen“. Natürlich gab es auch Frotzeleien, wenn wir im Religionsunterricht aufgeteilt wurden: „Da gehen die Ketzer“ oder „Jetzt aber raus zu Eurem Irrglauben“. Mein Bruder, vier Jahre älter als ich, besuchte den örtlichen Kindergarten, der von Ordensfrauen geleitet wurde. Er musste immer beim Beten sitzenbleiben, weil „die Evangelischen ja das Vaterunser nicht kennen“. Meine Mutter hat davon Abstand genommen, mich auch in diesen Kindergarten zu schicken.
Eine große Leidenschaft – damals wie heute – war und ist für mich das Lesen. Die Kinderbücher waren voll von Begriffen, wie „Mohren“ oder „Neger“, „Negerkönig“. Wie selbstverständlich spielten wir als Kinder Fangen unter dem Titel „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“.
Eins meiner frühesten und eindrücklichsten Erlebnisse, die mir aus meiner Kindheit im Gedächtnis erhalten geblieben sind, bringt mich heute wechselweise zum Schmunzeln oder lässt tiefe Schamesröte über mein Gesicht ziehen. Ich muss vier Jahre alt gewesen sein. Jedenfalls durfte ich den Weg von meinem Elternhaus zu meinen Großeltern väterlicherseits alleine gehen, ca. 100 Meter auf dem Bürgersteig in Richtung Bahnhof. Und auf dem Weg dorthin kam mir ein farbiger US-Soldat entgegen. In Bamberg gab es eine große Kaserne und dieser Soldat hatte eine Freundin in unserer Straße. Ein großer Skandal, wie mir später erzählt wurde. Ich sah diesen dunkelhäutigen Menschen, drehte mich auf dem Absatz um und rannte so schnell ich nur konnte, zu meiner Mutter zurück. Ich warf mich in ihre Arme und schluchzte: “Mama, Mama, der schwarze Mann ist da. Er will mich holen“.
Jahre später, als ich begeistert Basketball spielte, habe ich mit vielen Menschen unterschiedlichster Hautfarbe zusammengespielt, als Mitspieler oder als Gegenspieler. Hautfarben spielen für mich keine Rolle mehr.
Ich habe zum Glück in meinem Leben nur wenig Benachteiligung erfahren müssen. Aber eins steht für mich fest: Wer Menschen nach ihrer Hautfarbe beurteilt, betritt den Weg des Bösen und der Sünde. Für mich ist Gott ein Gott der Vielfalt. Wer den Gott der Vielfalt ehren will, der muss auch die Vielfalt seiner Schöpfung ehren. Das ganze Gerede von verschiedenen Rassen und vor allem von der unterschiedlichen Wertigkeit von Rassen ist Sünde in Reinformat.
Morgen feiern wir Trinitatis. Es ist nicht einfach, das Konzept eines dreieinigen Gottes zu erklären. Der wichtigste Gedanke daran für mich ist: Gott ist nicht ein monolithischer, starrer, unwandelbarer Gott. Schon der hebräische Gottesname „Jahwe“ deutet darauf hin. Aus meiner Sicht die schönste Übersetzung dafür lautet. „Ich bin, der ich sein werde“. Gott ist für uns Menschen nicht vollständig zu erfassen. Und doch ist der Gott, so wie ich ihn heute verstehe, der gleiche, den andere Menschen zu anderen Zeiten ganz anders verstanden haben. Und der Mensch, der ich bin, ist nur einer unter vielen Milliarden. Aber in einem sind wir alle gleich: Wir sind alle eins als Gottes wunderbare und geliebte Schöpfung.
Udo Ferle
Diakon